Landesentwicklungsprogramm

Gleichwertige Lebensverhältnisse in Bayern?

Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt, dass Konkurrenz der Kommunen gleichwertige Lebensverhältnisse behindert

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Der Augsburger Oberbürgermeister Kurt Gribl ist im Vorstand der Europäischen Metropolregion München EMM. Er vollstreckt dort das Metropolenkonzept der bayerischen Staatsregierung und hintertreibt damit eine Politik für ausgewogene Lebensverhältnisse in ganz Bayern. Angefangen haben damit aber vor acht Jahren die sozialdemokratischen OBs von München und Augsburg, Ude und Wengert. Foto: Kurt Gribl, 1. Mai-Kundgebung 2018, Rathausplatz

Das Volk hat am 15.9.2013 entschieden: In Bayern soll die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land“ hergestellt werden. Gut gebrüllt, bayerischer Löwe! Doch die Unterschiede zwischen Nord- und Südbayern lassen sich nicht so leicht einebnen. Hinzu kommt eine anhaltende Abwanderung aus wirtschaftlich und kulturell abgehängten Regionen, wo es zwar ausreichend Wohnraum, aber wenig Arbeit gibt, hinein in die boomenden Metropolregionen Bayerns, wo es zwar Arbeit, aber keinen bezahlbaren Wohnraum gibt. Von wegen Gleichwertigkeit!

Seit über 30 Jahren wird für Bayern ein Landesent-wicklungsprogramm1 fortgeschrieben, das auch den Verfassungsauftrag von 2013, die Herstellung gleichwertiger Lebens- Wirtschafts- und Arbeitsverhältnisse, verwirklichen soll. Der damalige bayerische Finanz- und Heimatminister Markus Söder formulierte in der Regierungserklärung vom 27. November 2014 «Heimat Bayern 2020», die eigentliche landespolitische Herausforderung liege darin, «dass Bayern nicht dauerhaft ein Land der zwei Geschwindigkeiten» werde.

Dieses Problem haben Simon Dudek und Andreas Kallert in einer Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung beackert. Die Studie hat den Titel „Gleichwertige Lebensverhältnisse in Bayern“2. Die Autoren stellen die konkreten Ziele und Instrumente dar, mit denen die bayerische Staatsregierung dem Verfassungsauftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gerecht werden will.

Doch das Fazit der Studie ist skeptisch. Simon Dudek und Andreas Kallert erkennen in der Fortentwicklung des Landesentwicklungsplans eher eine Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den Kommunen. Sie stellen fest, dass der Staatsregierung weiterhin der politische Wille für eine grundlegende Kehrtwende fehlt.

Es ist die neoliberale Politik, die den Wettbewerb zwischen den Kommunen um die besten Standorte für Handel und Verkehr, Gewerbe und Arbeit, Unterhaltung und Kultur fördert. Dabei werden wie bei jedem Wettbewerb nichrt nur Sieger, sondern auch Verlierer produziert. Die Metropolregionen werden attraktiver auf Kosten der ohnehin schon strukturschwachen Regionen. Letztere werden immer mehr zur Peripherie.

Diesem neoliberalen Konzept des interkommunalen Wettbewerbs stellen die Autoren Dudek und Kallert ein anderes Konzept entgegen, mit dem der Verfassungsauftrag nach Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse besser erfüllt werden kann. In ihren Augen schaffen die notwendigen Voraussetzungen für gleichwertige Lebens- und Arbeitsverhältnisse nur die Formulierung von Mindeststandards und mehr staatliche Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge.

Ein Konzept gegen Abwanderung, Abkopplung, Abhängigkeit und Abwertung

Gefordert ist ein modernes Konzept der Daseinsvorsorge: Alle Gemeinden und Gemeindeverbände sollen ein Anrecht auf kulturelle, soziale, wirtschafts- und verkehrspolitische Mindeststandards haben. Gleichheit der Mindeststandards also statt imaginäre Chancengleicheit. Oder auf eine Formel gebracht: „Soziale Infrastruktur statt gleiche Chanchen für ungleiche Kommunen!“

Die Autoren Dudek und Kallert belegen umfangreich mit Statistiken und Kartenmaterial drei Formen, wie Regionen noch weiter in die Peripherie abrutschen können: nämlich durch Abwanderung aus strukturschwachen Regionen; damit verbunden die wirtschaftliche, kulturelle und verkehrspolitische Abkopplung und folglich die Abhängigkeit von den Metropolen. Eine vierte Form der Peripherisierung spielt noch eine wichtige Rolle für die betroffenen Menschen: die Abwertung der Lebensverhältnisse in den peripheren Regionen. Das Leiden unter der Abwertung ihrer Lebensverhältnisse ließe sich wissenschaftlich aber nur in soziologisch aufwändigen Interviews mit den Betroffenen erfassen.

Instrumente gegen die Peripherisierung

Die Kritik der bayerischen Struktur- und Regionalpolitik und ihrer fatalen Nebenwirkungen, nämlich Abwanderung, Abkopplung, Abhängigkeit und Abwertung beschränkt sich nicht auf das neoliberale Konzept des interkommunalen Wettbewerbs. Auch die Instrumente der Politik kommen auf den Prüfstand. Wie unzureichend die Maßnahmen der bayerischen Landesregierung sind, zeigt eine Untersuchung der fünf Säulen der sogenannten Heimatstrategie der bayerischen Staatsregierung. Diese fünf Säulen sind: der kommunale Finanzausgleich, der Landeswentwicklungsplan, der Breitbandausbau, die Nordbayerninitiative und die Behördenverlagerung.

Aber in regionalen Planungsverbänden werden vereinzelt auch Alternativen zum Regierungskonzept „Aktivieren statt Alimentieren“ entwickelt. Während die Landesregierung in den „Regionen mit erhöhtem Förderbedarf“ den sogenannten Raumpionieren unternehmerisch freie Hand lässt, fordern einzelne regionale Planungsverbände, dass der Freistaat selbst innovative Investitionen tätigt, um die Daseinsvorsorge in schrumpfenden Regionen zu sichern. Denn die staatliche Förderung von privaten Raumpionieren kann gegen die Peripherisierung nur indirekt und damit auch nur sehr begrenzt wirken.

Überhaupt messen die Autoren den regionalen Planungsverbänden eine hohe Bedeutung zu und arbeiten dafür Handlungsempfehlungen aus, die übrigens auch für linke Initiativen und die Opposition zur CSU-Regierung von Interesse sind:

  • Die bisherigen Strukturen der Landesentwicklung müssen überdacht werden.

  • Die im Entwicklungsplan fixierten „Räume mit besonderem Handlungsbedarf“ sollen stattdesssen zu Räumen öffentlicher Investitionen werden.

  • Die Formulierung von Mindeststandards schafft erst eine notwendige Voraussetzung für Gleichwertigkeit.

  • Hochschulen für angewandte Wissenschaften sollten zu „Innovatoren der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen“ werden.

  • Best-Practice-Beispiele der öffentlichen Daseinsvorsorge werden zur Nachahmung empfohlen. Die Autoren nennen solche Vorbilder im Öffentlichen Personennahverkehr; sie stellen die Erfolge von Mehrfunktionshäusern ( Dorfladen und Dorfcafe´) und Mehrgenerationenpraxen dar.

Schlachtfeld öffentliche Daseinsvorsorge

Das in der Studie vorgeschlagene Konzept der öffentlichen Daseinsvorsorge wird sich nicht ohne heftigen Widerstand des wirtschaftsliberalen Mainstreams durchsetzen lassen. Paul Steinhardt hat erst vor kurzem für die Internetzeitschrift Makroskop einen „Frontbericht“ über das „Schlachtfeld Öffentliche Daseinsvorsorge“3 geschrieben.

Auf diesem „Schlachtfeld“ stehen auf der einen Seite die Marktradikalen, die glauben die Marktwirtschaft gegen staatliche Gängelung verteidigen zu müssen, weil für sie nur der Markt ein effizienter „Allokationsmechanismus knapper Ressourcen“ ist. Und damit verteidigen sie auch ihre eigenen Sonderinteressen. Ihren Kampf führen sie aber nicht ehrlich als Kampf für Sonderinteressen, sondern als Kampf für die Freiheit der Marktwirtschaft und gegen die staatliche Gängelung.

Auf der anderen Seite des Schlachtfeldes stehen Politik und Verwaltung, deren Maßnahmen zur öffentlichen Daseinsvorsorge die Marktwirtschaft als „effizienten Allokationsmechanismus knapper Ressourcen“ theoretisch und praktisch in Frage stellen. Die Tatsache, dass „die Staatsquoten in allen entwickelten Volkswirtschaften kaum unter 40% und oftmals bei bis zu 60% liegen“, ist für Paul Steinhardt der Beweis dafür, dass die Marktwirtschaft allein nicht die benötigten Güter und Dienstleistungen aufbringen kann.

Die Marktgläubigen erreichen die Deutungshoheit – auf Neudeutsch: die ideologische Hegemonie – durch die „weit verbreitete Geschichte…, dass die öffentliche Daseinsvorsorge nur ein Kostgänger der freien Wirtschaft ist“, während die freie Wirtschaft Gewinne erzielt. Paul Steinhardt spitzt den Gegensatz zwischen Marktinteressen und Gewinnprinzip einerseits und öffentlicher Daseinsvorsorge andererseits polemisch zu:

„Während z.B. die Produktion von Pornofilmen Einnahmen generiert, generiert die Bereitstellung von Wasser nur Ausgaben. Aus dieser Sicht ist es sinnvoll, mehr Pornofilme zu produzieren, aber bei der Bereitstellung von Wasser zu sparen.“

Juristisch aber haben die Wirtschaftsliberalen bereits 1993 mit der Bundeshaushaltsordnung (BHO) eine Entscheidungsschlacht gewonnen. Die Aufforderung in § 7 BHO an die öffentlichen Hände, bei ihren Ausgaben den Grundsatz der „Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten“, wurde ergänzt um den Satz:

„Diese Grundsätze verpflichten zur Prüfung, inwieweit staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten durch Ausgliederung und Entstaatlichung oder Privatisierung erfüllt werden können.“

Und weiter heißt es:

„In geeigneten Fällen ist privaten Anbietern die Möglichkeit zu geben darzulegen, ob und inwieweit sie staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten nicht ebenso gut oder besser erbringen können (Interessenbekundungsverfahren).“4

Öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge werden mit diesen Bestimmungen den Profitinteressen der Finanzmärkte unterworfen. Paul Steinhardt kommt zu einem deprimierenden Fazit:

„Auf dem Schlachtfeld der öffentlichen Daseinsvorsorge stehen die Marktfundamentalisten unzweifelhaft als triumphale Sieger (... ) Als Verliererin liegt die Demokratie am Boden. Die Verlierer der Privatisierung der Daseinsvorsorge sind also die weit überwiegende Mehrheit der Bürger. Geradezu tragisch ist dabei, dass viele dieser Bürger das ob der erfolgreichen neoliberalen Propaganda noch nicht einmal zu sehen in der Lage sind.“

Kommt Bayerns Linke in die Offensive?

Da Die Linke im Bayerischen Landtag nicht vertreten ist, findet ihre Kritik an der Staatsregierung auch wenig Resonanz in den Medien und dementsprechend auch in der Bevölkerung. Und es ist zu befürchten, dass Die Linke auch nach der Landtagswahl auf der Stufe einer ohnmächtigen Protestpartei sitzen bleibt.

Zwar hat Die Linke in Bayern bei der Bundestagswahl 2017 etwas mehr als sechs Prozent erreicht, aber dennoch ist es fraglich, ob sie die Fünf-Prozent-Hürde bei der Landtagswahl im Herbst 2018 schaffen wird. Denn Die Linke ist in der bayerischen Gesellschaft noch wenig verankert. Sie hatte bei den Kommunalwahlen 2014 bayernweit nur 35 Stadt- und Gemeinderäte5, obwohl es keine Fünfprozent-Hürde gibt. In den bayerischen Großstädten hat Die Linke keine Fraktionsstärke, so dass sie sich mit anderen Kleinparteien zu Ausschussgemeinschaften zusammenschließen müssen.

In den strukturschwachen Regionen Bayerns ist Die Linke so gut wie nicht vertreten. Die RLS-Studie „Gleichwertige Lebensverhältnisse in Bayern“ von S. Dudek und A. Kallert bietet das theoretische Rüstzeug für eine offensive Struktur- und Regionalpolitik. Statt nur mit kritischen Kommentaren der jeweiligen Stadt- und der Landesregierung hinterher zu hinken, könnte Die Linke auf der Grundlage der RLS-Studie eine offensive Oppositionsstrategie formulieren, die der Landesregierung nicht nur politische Prinzipien entgegen hält, sondern die tatsächlichen Verhältnisse in Bayern und den Landesentwicklungsplan ins Visier nimmt.

Über die Landtagswahlen hinaus hat die RLS-Studie große Bedeutung für die Parteientwicklung hin zur „verbindenden Partei“, die nach den Vorstellungen von Katja Kipping und Bernd Riexinger6 versucht „Konkurrenz und Entsolidarisierung zurückzudrängen und ein gesellschaftliches Lager der Solidarität zu bilden“, in dem regionale soziale, gewerkschaftliche oder politische Initiativen auf Augenhöhe diskutieren und zusammenarbeiten.

Dafür ist aus der Sicht von Mario Candeias, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ein „Perspektivenwechsel erforderlich: eine neue Klassenpolitik, die die Vielfältigkeit von Interessen des linken Mosaiks nicht negiert. Ein bloßes Zurück zum alten Klassenkampf kann es nicht sein. Rassismus, Geschlechterverhältnisse und soziale Fragen, Ökologie und Frieden etwa sind untrennbar verwoben. Es gibt einen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen. Schließlich heißt es nicht umsonst »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes… Wesen ist« (MEW 1, 385).“7

Wolfgang Walter, 17. Mai 2018

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