Rezension einer Broschüre von attac (VSA-Verlag 2018):

„Kommt der Finanz-Crash 2.0?“ von Isabelle Bourboulon

„Zehn Jahre nach der Lehmann-Pleite:
Für ein Finanzsystem im Interesse der Vielen“

19.2.2019

zur Druckversion  

 

Die globalisierungskritische Organisation Attac hat 2018 in ihrer Reihe „Basis-Texte“ eine 80seitige Broschüre zum Thema Finanzkrise herausgegeben. Anlaß war die 10jährige Wiederkehr des Finanzcrashs von 2008. Wie andere linke Organisationen und Parteien will Isabelle Bourboulon für eine demokratische Gesellschaft, ein „Finanzsystem im Interesse der Vielen“ durchsetzen. In Diagnose und Therapie der „Finanzkrise“ ist für fast jeden etwas dabei. Das macht die Schwäche dieser Broschüre aus. Wenn wir hier die Broschüre von Attac für eine Kritik ausgesucht haben aus dem unüberschaubaren Wust von „Krisenliteratur“, hat das keinen besonderen Grund, wir hätten uns genauso gut eine Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu diesem Thema vornehmen können. Der Tenor in diesen Texten ist zwar nicht identisch, aber ähnlich. Sich mit der „Finanzkrise“ zu befassen, ihren inneren Zusammenhängen mit der Realwirtschaft und der Politik nachzugehen, ist zwingend. Die von fast niemandem mehr bezweifelte Wahrscheinlichkeit eines „Finanzcrash 2.0“ machte diese Broschüre von Attac unbedingt nötig.

Die Broschüre hat vier Schwerpunkte:

1. Der Vorlauf des Crashs und sein Verlauf.
2. Was passierte in den 10 Jahren nach 2008?
3. Bestandsaufnahme der politisch-ökonomischen Situation im Jahr 2018.
4. Welches Fazit ist zu ziehen und welche Konsequenzen sind erforderlich?

Die ersten drei Kapitel der Broschüre geben eine kompakte Übersicht und Beschreibung des gesamten Krisenverlaufes wieder. Diese Kapitel sind gut brauchbar, wenn man dereinst oder auch heute schon wissen will, was wann passierte. Quasi ein gut brauchbares Handbuch der Ereignisse mit Stichpunkten wie z. B.: Krisenauslöser, Politikreaktion, Krisenmanagement, Krisenfolgen, Macht der Finanzmärkte, Reformunwilligkeit, Verhalten der Zentralbank(en), Deutschlands Rosskurverordnung, Finanzmarkt­reregulierung oder Business as usual.

Auch wenn die Zeitebenen hin und wieder überraschend gewechselt werden und die Gliederung thematisch wenig stringent ist, bekommt man im Überblick doch einen bleibenden Eindruck vom Geschehen.

Die entscheidenden Punkte werden beschrieben, die zum Zusammenbruch der Börsen, Finanzmärkte und Volkswirtschaften führten. Ausgehend von der US-amerikanischen Verschuldung der Privathaushalte durch Hypothekenkredite, über die notwendigerweise immer weiter steigenden Häuserpreise bis zu deren Ende. Nachdem sich das alles abzeichnete, werden die faulen Hypotheken als Kreditbündel in die Welt hinaus verkauft. Und fast alle Finanzakteure sind infiziert. Als die Krise „systemisch“ wird, werden die bei den Hausbesitzern und Spekulanten nicht mehr eintreibbaren Schulden kurzerhand verstaatlicht. Folge: „Die Arbeitslosigkeit erreichte historische Höchststände. Die Rechnung zahlen in erster Linie Arbeitnehmer, Rentner und Empfänger von Sozialtransfers.“ (S. 18) „Die Krise … hat ihre Wurzeln in den globalisierten Finanzmärkten.“ (S. 22) Entscheidend ist für Bourboulon die „neoliberale Deregulierung“ der Finanzmärkte.

Analytische Unschärfe

Ist die Beschreibung der tatsächlichen Vorgänge gut brauchbar, läßt die Tiefe der Analyse oder Diagnose eher zu wünschen übrig und ist an entscheidenden Punkten ohne Konsequenz. Die Begriffe Krise und Crash werden leider immer wieder umstandslos gleichgesetzt. Die Wirtschaftskrise, die zum Crash führte, und die Krise, die wir seit jetzt gut zehn Jahren spüren, kommt in ihrer Eigenheit als Krise eines kapitalistischen Wirtschaftssystems nur als Marginalie vor. Der Finanzmarkt-Crash ist die Hauptsache. Hier liegen Ursache und Auslöser der „Krise“ sowie ihr Lösungspotential.

Ein Beispiel für die Analyse, die vieles beim Namen nennt aber unfertig bleibt: „… dieses System hat sich von der Realwirtschaft völlig abgekoppelt. Finanzspekulation und Profitmaximierung sind zum Selbstzweck geworden. Andere Dimensionen von Wirtschaften, die Produktion von Gebrauchswerten, Arbeitsplätze, gesellschaftliche Interessen sind völlig irrelevant geworden.“ (S. 22)

Oder: „Denn die Schwächung der Lohnarbeit im Verhältnis zum Kapital in der Realwirtschaft hat die Finanzialisierung dreißig Jahre lang gespeist. Weniger Löhne und soziale Sicherung bedeuten mehr Gewinn für Aktionäre und Finanzakteure.“ (S. 23)

Was ist an dieser Einschätzung nicht logisch? Wenn es fallende Löhne und Verringerung der sozialen Sicherung in der Realwirtschaft gibt, und so steht es hier, dann ist zunächst jeder Kapitalist froh um die dann steigenden Profitmengen und -raten. Und steigende Profite führen in aller Regel zu weiteren kapitalproduktiven Investitionen. Nach Bourboulons Text geht es der Profitproduktion also gut, die kapitalistische Verwertung und Kapitalakkumulation war also gesund, als sie sich von ihrem eigenen erfolgreichen Verwertungsmodell verabschiedet hat und an die Börse ging. Das ist wenig plausibel. Das Gegenteil ist schon eher denkbar. Das bestehende Verwertungsmodell muss an seine Grenzen geraten sein und sich nicht mehr „rentabel“ selber verwerten. Dann wäre die exorbitante Steigerung der Transaktionen an den Finanzmärkten aber nicht die Ursache, sondern die Folge einer nicht mehr solide funktionierenden kapitalistischen Produktionsweise.

Der Finanzwirtschaft kommen diese Profite also zunächst direkt nicht zugute außer über die Aktiendividenden. Warum aber stockt die kapitalproduktive Investition, wie Bourboulon vermutet? Darauf gibt sie leider keine Antwort, sondern es gibt den Kurzschluss, dass sich die Finanzmärkte an den Profiten der Realwirtschaft bedienen. Vom Auslaufmodell „Fordismus“ ist die Rede. Von der dritten industriellen Revolution, der mikro­elektronischen, ist leider nicht oder nur am Rande die Rede. Dabei steckt in dieser Produktivitäts­revolution ein wesentliches Element der Profitprobleme, die der globale Kapitalismus hat. Und die mikroelektronische Revolution ist nicht einfach nur Bestandteil der sekundenschnellen Arbeitsprozesse an den Börsen.

An dieser Stelle werden zwei Theorien stichwortartig erwähnt, die uns die jetzigen Akkumulations­schwierigkeiten der kapitalistischen Produktion besser erklären können, allerdings keine Konjunktur haben: Das Theorem vom tendenziellen Fall der Profitrate von Marx und das sog. „Stagnationstheorem“ von Keynes. Marxens Theorie ist Teil seiner radikalen Krisentheorie. Bei Keynes geht man im allgemeinen davon aus, dass er der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus ist und diesen immer wieder durch kreditäre Staatsintervention zu neuem Leben erweckt. Wir werden demnächst hier einen eigenen Artikel zu diesen Fragen veröffentlichen.

Für Bourboulon entscheidend ist die „neoliberale Deregulierung“ der Finanzmärkte. Obwohl sie die Entstehung der modernen Finanzkrise und ihrer Geschichte schon im Crash von 1929 verortet und die Vertragsänderungen von Bretton Woods erwähnt und alle Krisen der letzten 25 Jahr aufzählt, beginnend mit Mexiko 1995, beantwortet sie die Frage nach dem Warum mit: „… dieses System hat sich von der Realwirtschaft völlig abgekoppelt. Finanzspekulation und Profitmaximierung sind zum Selbstzweck geworden.“ (S. 22) Die Profitmaximierung durch die Finanzspekulation wird umstandslos gleichgesetzt mit jedweder anderen Profitmaximierung. Vermutlich 95% des spekulativen Kapitals an den Börsen haben den Charakter von „fiktivem Kapital“ (Marx), vorgestelltes oder auch illusorisches Kapital. D. h. dieses Kapital entbehrt eines realen Wertäquivalentes. Und deshalb sind diese Kapital- oder Geldmassen auch nicht einfach umleitbar in die sog. Realwirtschaft. Die Regulierbarkeit der Finanzmärkte ist ebenfalls eine Illusion, weil diese Märkte heute die Voraussetzung für eine „funktionierende Realwirtschaft“ sind usw.

Karl Marx schrieb schon vor 150 Jahren über den Verwertungsprozess des Kapitals: „Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“ (MEW 23, S. 167)

Nun entkoppelt sich bei Marx nicht die eine Wirtschaftsebene von einer anderen, aber die Triebkraft des kapitalistischen Selbstverwertungsprozesses wird benannt: Der Selbstverwertungszwang des Kapitals in seiner abstraktesten Form, des Geldes. D. h. wir haben es auf beiden „Wirtschaftsebenen“ mit einem ähnlichen Zwangsverhältnis zu tun.

Von der „realistischen Utopie“ zur Krisenmitverwaltung

Im vierten Teil der Attac-Broschüre geht‘s um die alternativen Handlungsmöglichkeiten, Visionen und um „realistische Utopien“. Und hier rächt es sich, dass Bourboulon analytisch auf halber Strecke stehen bleibt und das kapitalistische Verwertungsmodell als das begreift, was es nur vordergründig ist: Ein Modell, das sich auch an den Finanzmärkten tatsächlich kapitalisiert und lediglich dort reguliert werden müsse, um den kapitalistischen Produktionsprozeß wieder regulär in Gang zu bringen.

Das liest sich dann in Kapitelüberschriften so: „Das Kasino wird dichtgemacht“, „Schuldengrenzen“, „Die Banken werden streng überwacht“, „Ein Krisenfonds gegen Insolvenz“, „Die Politik hat wieder die Kontrolle über die Finanzmärkte“ bis hin zu „Ein neues Bretton-Woods-Abkommen“.

Es fällt auf: Das existierende Gesellschaftsgefüge mit seiner ökonomischen Grundlage und der dazugehörigen Herrschaftsordnung soll bestehen bleiben. Auch hier wird offensichtlich, dass Bourboulon einige ihrer eigenen Untersuchungen und Erkenntnisse nicht bis zum Schluß durchhält. Dass sie das Kasino „dichtmachen“ will ist zu bezweifeln. Es wäre mit den gegebenen Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnissen unvereinbar. Dann müsste man eine basale Kritik an den Verhältnissen von der Analyse bis zur Therapie durchhalten.

Die Gefahr eines „Finanzcrash 2.0“ soll abgewendet werden. Der Forderungskatalog von Bourboulon rutscht auf einer schiefen Ebene direkt in irgendwelche Ausschüsse der „demokratischen“ Parlamente. Die „realistische Utopie“: „Das Kasino wird dicht gemacht“ (S. 62) steht in ein und demselben Kapitel neben der Forderung nach „Kapitalverkehrskontrollen“ und einer ganzen Menge anderer Regulierungen der Finanzmärkte, sozusagen als Wirtschaftsprogramm im „Interesse der Vielen“.

Hier wird der blinde Fleck sichtbar, der fehlende rote Faden, der Analyse und Therapie der gesellschaftlichen Verhältnisse in dieser Broschüre durchzieht. Es ist für jeden etwas dabei. Vom scheinradikalen Systemveränderer bis hin zum sozialdemokratischen Kapitalkontrolleur kann sich jeder sein Teil denken. Und das wird dauerhaft nicht möglich sein.

Peter Rapke, 19.2.2019

zur Druckversion  


   
nach oben