Rezension ZHAO Tingyang, Teil 1

Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung

Dr. Hansjörg Bisle-Müller

18.10.2022

Zur Einordnung des Autors
Worum geht es?
Von der Welt aus denken
Europäische Expansion statt wirklicher Weltgeschichte
Aufstieg und Wandlungen des Imperialismus
Das Scheitern der imperialistischen Logik und das Paradoxon der Nachahmung
Die neue systemische Macht der Dreieinigkeit von Kapital, Technologie und Dienstleistung
Systemische Gewalt und Manipulation
Wie kann der Weltuntergang vermieden werden


zur Druckversion  

Rezension Teil 1: ZHAO Tingyang „Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung “, Berlin 2020 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2282) – chinesische Originalausgabe 2016

Zur Einordnung des Autors

Zhao Tingyang ist Professor für Philosophie an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und Forschungsstipendiat des us-amerikanischen Berggruen-Instituts in Beijing. Er ist ausweislich seiner Danksagungen im Vorwort nicht nur in China, sondern auch international bestens vernetzt.

Trotzdem fühlt sich ein Rezensent wie Jürgen Osterhammel in der FAZ v. 31.03.2020 bemüßigt, Zhao als „establishment intellectual“ der VR China in zwei Abschnitten mit seltsam denunzierendem Duktus vorzuführen. Aber zählt nicht auch Jürgen Osterhammel längst bei uns zu denen, die „so weit angepasst (sind), dass sie keinen Anstoß erregen“? Dass es nicht schade, wie Osterhammel schreibt, „einen Autor grob in seinem Wirkungsfeld zu platzieren“, auch wenn man „ein Buch nach seinem Inhalt beurteilen“ sollte, kann genauso gut für die westlichen Rezensenten gelten. Nach dem Beurteilungsrahmen, den Osterhammel anlegt, erinnert er mich an die bundesrepublikanischen Brechtkritiker aus den 1950er Jahren.

Philippe Brunozzi und Henning Hahn verweisen in der „Zeitschrift für Praktische Philosophie“ ( 1 ) auf ein viel wichtigeres Problem als die Einordnung des Autors in ein politisches Wirkungsfeld. Sie lehnen einen „Fokus auf einen ‚westlichen‘ Kanon“ (ebd.: S. 350) nicht nur ab, weil so ein Vorgehen unfair sei und „globale Ungerechtigkeiten“ fortschreibe, sondern auch, weil die „Ignoranz gegenüber chinesischen und anderen philosophischen Traditionen“ ein „Reservoir von Erkenntnissen, Erfahrungen und Herangehensweisen“ verspiele. Sie unterstützen deshalb die Idee einer globalen Philosophie: „Es geht darum, sich auf einen Diskurs einzulassen, in dem sich unterschiedliche Traditionen wechselseitig herausfordern und befruchten – und zwar nicht, um einen Ansatz als den überlegenen hervortreten zu lassen, und auch nicht nur um die Eigenart des anderen zu verstehen, sondern um eine gemeinsame Diskurspraxis zu etablieren, in der das Zusammenspiel unterschiedlicher Traditionen neue Sichtweisen ermöglicht.“ (ebd.: S. 350f.)

Ausschnitt aus ZhaoTingyang au CCCP avec Chine 4D, rencontre avec ses lecteurs de "Tianxia", 19.03.2018 https://www.youtube.com/watch?v=E9_Fj5tpYX8

Worum geht es?

Das Buch von Zhao legt einen Schwerpunkt auf Methodologie und Ontologie, ist also eine philosophische Untersuchung, auch wenn es meist um Geschichte und Politik geht. Es ist ein anstrengendes Buch und verlangt den Lesenden viel ab, eröffnet aber so viele neue Zugänge zu unserer Welt und unserem Leben, dass sich die Mühe lohnt.

In seinem Vorwort weist Zhao darauf hin, dass das Konzept des Tianxia (Alles unter dem Himmel) im alten China nicht nur „das politische Ideal einer Weltordnung“ und eine „Methodologie“ sei, sondern auch „spirituelle Aspekte“ (S. 9) umfasse. Dies betreffe die „zwischenmenschlichen spirituellen Beziehungen“, aber auch die zwischen dem Dao des Himmels und dem der Menschen.

Das Buch schließt auch mit einer kurzen Betrachtung über Spiritualität und Sakralität, über Riten und Musik. Nach einer umfangreichen Einführung mit einer „Neudefinition des Politischen durch das Tianxia“ und einer kritischen Analyse der Konzepte bisheriger internationaler Politik, der Globalisierung und der Entwicklung des weltweiten imperialistischen Systems folgen zwei Kapitel über die Geschichte des Tianxiakonzepts in China, auf die ich in meiner Rezension nicht näher eingehen werde. Im dritten und letzten Kapitel „Gegenwart und Zukunft des Tianxia“ diskutiert Zhao dann noch einmal die in der Einführung aufgeworfene Probleme und fasst seinen Vorschlag eines neuen Weltsystems in einem „Wörterbuch des neuen Tianxia“ zusammen.

Von der Welt aus denken

Für Zhao ändert sich mit der Globalisierung die Welt nicht nur politisch, sondern auch „im Existenz-Modus“. Wir brauchten also zukünftig eine entsprechende „Daseinsordnung“ mit der „Inklusion der Welt“. Diese Ordnung bezeichnet er als System des „Alles unter dem Himmel“ und verwendet dabei mit „Tianxia“ einen Begriff des chinesischen Altertums. Die damit aufgeworfenen Fragen aber haben für Zhao nicht nur chinesische Bedeutung, sondern universelle. Sie verweisen auf eine „Welt der Weltheit“ und als dynamischer Prozess auf eine „Verweltlichung der Welt“.

Was das genauer benennt, wird klarer, wenn wir das Konzept bisheriger internationaler Politik betrachten, das nach Zhao bestimmt ist durch „die Modelle des Nationalstaaten-Systems, des Imperialismus und des Hegemonialstrebens“ (S.13). Diesem Konzept stünden die Tatsachen der Globalisierung entgegen. In der Zukunft gehöre nicht den Nationalstaaten und deren politischen Spielen die höchste Macht, sondern globalen Netzwerken (S.13f.).

Das Konzept des Tianxia verstehe die „Welt als Ganzes“, als „politische Entität“ und als „Subjekt der Politik“, ziele also auf eine „Ordnung der Koexistenz“. In der imperialistischen Weltanschauung dagegen diene die Welt als „Objekt der Unterwerfung, Beherrschung und Ausbeutung und keinesfalls als politisches Subjekt.“ Es gehe um Mächte und den „Rest der Welt“. So sieht Zhao „zwei völlig konträre Grammatiken des Denkens“: Die Welt reflektieren oder von der Welt ausgehend reflektieren. Der Blickwinkel dürfe nach dem Tianxiakonzept aber nicht der des Staates sein, sondern „die Welt als Ganzes muss als Maßstab der Definition politischer Ordnung und politischer Legitimität dienen.“ (S. 14) Zhao muss nun begründen, warum sein Tianxiakonzept der auch möglichen Macht der globalen Netzwerke überlegen ist.

Europäische Expansion statt wirklicher Weltgeschichte

Für Zhao gibt es noch keine Weltgeschichte, sondern nur die Geschichte der europäischen Expansion oder wie er es noch schärfer formuliert: „Die Geschichte der verschiedenen Orte der Welt wurde zu Episoden der Passivität oder Unterordnung innerhalb des hegemonialen Narrativs Europas.“ (S. 181) Fukuyamas These vom Ende der Geschichte nach der Auflösung der Sowjetunion nennt er „die widerrechtliche und missbräuchliche Aneignung einer theologischen Erzählung unter Verwendung der Struktur eines hegelianischen Narrativs.“ Verallgemeinernd kritisiert er auch implizit das marxistische Narrativ: „Wenn man den Fortschrittsglauben der narrativen Logik des Christentums aufpfropft, dann wird daraus eine Erzählung modernen Aberglaubens.“ (S. 182) Eine wirkliche Weltgeschichte müsse von einer Ordnung ausgehen, deren Spielregeln nicht von einem Staat für die restliche Welt aufgestellt wurden, sondern von der Welt für alle Staaten (S.182).

Aber heute gebe es weder eine solche Weltordnung noch eine gemeinsame Sicht auf die Welt. Die Welt sei „lediglich eine missbrauchte und ausgebeutete Ressource, ein umkämpfter und beschädigter Daseinsraum.“ Deshalb seien nicht failed states, sondern eine gescheiterte Welt das wirkliche Problem (S. 183). Für das wahrscheinlichste Ende der Menschheit hält Zhao „ein selbstmörderisches Ende, ein Jüngstes Gericht der Menschheit über sich selbst ohne Errettung.“ Die selbstmörderische Entwicklung habe mit der Moderne begonnen, „mit dem Bestreben des Menschen, zum Subjekt der Schöpfung zu werden“, Gottes Stelle einzunehmen und auch noch „die menschliche Gier erneut zum legitimen Recht“ zu erklären (S. 214). Anders als Gott sei der Mensch aber nicht allmächtig und die „Auslöschung der Menschheit durch von ihr geschaffene, aber nicht kontrollierbare Kräfte“ eine realistische Perspektive (S. 215).

Zwei Prinzipien der Moderne betrachtet Zhao als Grundübel: Zum einen die Definition von rationalem Verhalten als nach Maximierung des eigenen Nutzens strebendem Verhalten und zum anderen das Streben nach Unterwerfung der Natur und grenzenloser Entwicklung (S. 214). Das Anerkennungspotential der Ausführungen von Zhao ist also auch im Westen sehr hoch und könnte am Anfang eines neuen und notwendigen Diskurses über gemeinsame Werte auch mit China stehen, nachdem der letzte einflussreiche Diskurs dieser Art – geprägt von Leibniz und Voltaire – schon sehr lange zurückliegt.

Am Anfang habe das Wettbewerbsspiel der Moderne gut funktioniert. Das Kommunistische Manifest singt ja ein wahres Loblied darauf, was Zhao interessanterweise nicht erwähnt. Zhao nennt das „Geheimnis“ dieses Erfolgs: die Aufteilung und Ausbeutung der Welt durch „asymmetrische technologische Überlegenheit“ (S. 215). Inzwischen aber werde „das monopolisierte Wissen zu Gemeinwissen“ und „das Konkurrenzspiel“ langsam „unprofitabel“ (S. 216). Immer mehr schwerwiegende Probleme und Krisen häuften sich: Finanzkrisen, Klimawandel, Terrorismus und nicht näher definierte „regionale Turbulenzen“. Die Rede „vom gemeinsamen Schicksal der Menschheit“ werde zur „ernsthaften Frage“ in einer Situation „ohne Weltordnung“ und ohne Kontrolle (S. 216).

Die Kritik an der westlichen Wettbewerbseuphorie hat schon 1933 der Harvard-Philosoph Alfred North Whitehead – höchst angesehen an heutigen chinesischen Universitäten – pointiert und aggressiv formuliert: „Was für Platon die Begriffe ‚Form‘ und ‚Harmonie‘ gewesen waren, waren für das neunzehnte Jahrhundert die Begriffe ‚Individualität‘ und ‚Wettbewerb‘. […] Der Preis, um den es bei diesem Wettbewerb ging, war ‚das Leben‘. Die erfolglosen Teilnehmer mussten sterben und wurden so, durch diese schöne Vorkehrung der Natur, daran gehindert, zu einem sozialen Problem zu werden.“ (Alfred N. Whitehead: Abenteuer der Ideen. Frankfurt a. M. 2000: S. 120)

Aufstieg und Wandlungen des Imperialismus

In der Moderne sei internationale Politik „nur Derivat staatlicher Politik“. Die „imperialistische Dominierung und Ausbeutung“ der restlichen Welt werde „zwangsläufig zur vorherrschenden Strategie“ der großen Mächte, aber ohne nachhaltigen Erfolg. Auch der marxistische Internationalismus sei „unzuverlässig“: „Im System konkurrierender Nationalstaaten übertreffen die Interessenkonflikte zwischen den proletarischen Klassen der jeweiligen Länder sogar die Interessenwidersprüche zwischen den nationalen Kapitalistenklassen.“ (S. 23f.) Er widmet auch einen ganzen Absatz der Kritik des marxistischen Klassenbegriffs und meint, einen „weltumspannenden Klassenbegriff“ zu vertreten, würde nur verdecken, dass „die internationale Ausbeutung, d.h. die Ausbeutung anderer Länder durch die USA und Europa, weit gravierender ist als die innerstaatliche Ausbeutung.“ Die Interessen der arbeitenden Bevölkerung der USA und Europas seien nicht identisch mit denen der Bevölkerung anderer Länder. Ein Klassenbegriff ohne die Berücksichtigung der internationalen Ausbeutung sei fragwürdig, solange diese internationale Ausbeutung bestehe (S. 186).

Ohne es auszusprechen, stellt Zhao so den Sinn der Forderung „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ infrage. Das von Mao Zedong erkannte „Problem der Ungleichheit“ der drei Welten sei entscheidend. Hier geht es Zhao wohl nicht um die außenpolitischen Implikationen dieser Theorie, sondern nur um die ungleichen Machtverhältnisse, die die Beherrschung und Ausbeutung der schwächeren Staaten ermöglichen. Insofern zählen nicht nur die USA als jetzt einzige Macht der Ersten Welt, sondern auch die meisten anderen westlichen Staaten als Zweite Welt zu den Ausbeutern. Gleichheit und Demokratie könnten zwar staatenintern etwas an der Ausbeutung ändern, aber nichts an der internationalen Ausbeutung der schwachen Staaten (S. 187). Zhao schließt hier eindeutig an die Tradition der Auseinandersetzungen mit der KPdSU in den 1960er Jahren an und bestätigt den Eindruck, dass er nicht als traditioneller Marxist reflektiert, sondern als zwar marxistisch geschulter, aber wesentlich an chinesischen Denktraditionen – auch maoistischen - orientierter Philosoph, wenn man so will als sinisierter Marxist.

Internationale Politik sei nur Außenpolitik, bei der es um den „Interessenwettstreit zwischen den Staaten in Form von Kooperation, Konkurrenz, Kampf und sogar Krieg“ gehe (S. 184). Ziel sei die „Niederhaltung von Konkurrenten“ und „die Maximierung des eigenen Nutzens“. Für die Hegemonialstaaten würden „sämtliche Gebiete und die offenen Meere außerhalb des eigenen Staatsgebietes zur verfüg- und verteilbaren Allmende.“ (S. 184) Eine entscheidende Rolle als „Zeitenwende“ habe der Westfälische Friedensvertrag nach dem Dreißigjährigen Krieg gespielt mit der zumindest für Europa erfolgten Aufteilung der Welt in souveräne Staaten. Aber erst nach zwei Weltkriegen im vergangenen Jahrhundert seien durch die Revolutions- und Befreiungsbewegungen fast alle Staaten souverän geworden.

Hier fehlt bei Zhao der Hinweis auf die noch ungeklärten Ansprüche vieler Ethnien auf einen eigenen Staat, die vor allem von westlicher Seite hegemonial ausgenützt werden. Unabhängigkeitsbewegungen werden und wurden im nicht-westlichen Einflussbereich unterstützt, aber z.B. in Spanien oder Frankreich massiv bekämpft. Diese „Nach-Tarierungen“, wie ich sie nennen möchte, diskutiert Zhao leider nicht. Er behauptet nur allgemein, das „Konkurrenzmodell“ habe zwar das „Annexionsmodell“ ersetzt, aber die Regeln des Konkurrenzmodells würden von den USA und Europa festgelegt (S. 185f.). Die Doppelzüngigkeit der westlichen Politik mit doppelten Standards bei Unabhängigkeitsbewegungen – ob auf Korsika, in Katalonien, im Baskenland, im Kosovo, in Xinjiang oder in kurdischen Gebieten – bezieht sich auch sogar auf den Begriff „Terrorismus“, der fast nur auf die Organisationen angewendet wird, die mit dem Westen, vor allem mit Nato-Ländern, in Konflikt stehen. Aus Kriminellen oder Terroristen werden plötzlich Freiheitskämpfer und aus Freiheitskämpfern Terroristen, je nach Einsatzgebiet und politischer Brauchbarkeit.

Zhao rekurriert aber implizit auf diese Fragen mit dem Begriff der „Dominierung“ der Welt durch die Festlegung der Spielregeln und dem „Recht auf die Interpretation des Wissens“. Das heutige Dominanzsystem als „höchstes Stadium des Imperialismus“ setze statt auf Eroberung und militärische Intervention mehr auf „die Kontrolle über die Lebensadern“ . Die Dominierung der Welt „bis in die Tiefenschichten“ erfolge über das „Recht auf Festlegung der Spielregeln und das Recht auf die Interpretation des Wissens“. Die „Diktatur über diese Rechte“ mache „den vollkommenen Imperialismus“ aus (S. 187).

Mit dem Ende des 2. Weltkriegs sei eine Wende in der politischen Logik des Imperialismus durch die Nachahmung der „Systeme, Technologien und Strategien der europäischen Staaten“ durch die neu entstandenen souveränen Staaten in den ehemaligen Kolonien und Halbkolonien und anderen unterdrückten Staaten gekommen. Da keine Allmende mehr erobert werden konnte, habe der erstarkte US-Imperialismus „den modernen Imperialismus in den globalen Imperialismus“ verwandelt (S. 206). Dabei sei das bestehende koloniale Handelssystem und das alte System der Wissenshegemonie (auch durch die englische Sprache) beibehalten worden (S. 206f.). Neu hinzugekommen seien durch den US-Imperialismus die Hegemonie über das Finanzwesen und die Menschenrechtsstrategie (S. 207ff.).

Er hebt die „privilegierte Deutungsmacht in Bezug auf universelle Werte“ hervor, die die USA innehätten (S. 208) und kritisiert, die USA hätten es geschafft, „im Weltspiel zum einzigen Subjekt außerhalb des Gesetzes zu werden und drei Rollen in sich zu vereinen: mitzuspielen, die Regeln festzusetzen und die Art des Spiels zu bestimmen.“(S. 209) Sie hätten die „faktische Kontrolle bzw. Dominanz […] über die internationalen, einen Großteil der Erde umspannenden Systeme, insbesondere das Finanzsystem, das Mediensystem, die sozialen Medien, das System der Sprachproduktion und natürlich auch die globale Militärmacht.“ (S. 209) Das Ziel der universellen Wirksamkeit könne die Weltanschauung des Imperialismus aber nicht erreichen.

Das Scheitern der imperialistischen Logik und das Paradoxon der Nachahmung

Zhao zitiert Huntington, dass der Westen die Welt „nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion“ erobert habe, „sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt“ (S. 203). Leider erwähnt Zhao hier nicht, dass die Entstehung der Menschenrechtsideologie sich zeitlich überlappt mit der Entstehung des modernen Kolonialismus und Imperialismus und so die Aufklärung zum Auftakt einer neuen und verschärften Runde im Kampf der Kulturen wurde. Aber die Gegenkräfte gegen eine solche Konfrontationspolitik erstarkten und Zhao hält vier Wendepunkte fest, die zum Scheitern der imperialistischen Logik führten: (1) das Ende des alten Kolonialismus nach dem 2. Weltkrieg, (2) das atomare Gleichgewicht durch den Kalten Krieg, (3) das Aufkommen eines nichtstaatlichen Terrorismus und (4) die Globalisierung mit den sozialen Netzwerken (S. 203).

Hier erscheint mir Zhao als zu optimistisch, denn der Terrorismus dient ja auch zur Rechtfertigung von neuen imperialistischen Aktionen und die sozialen Netzwerke auch der Unterstützung der westlichen Überlegenheitsideologie. Auffällig ist auch, dass er das Gegengewicht einer sozialistischen Staatenwelt nicht anführt, weder für die Zeit des Kalten Krieges noch für heute anführt. Damit macht er deutlich, dass er nicht den Konflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern zwischen der sogenannten 1. und der 3. Welt für entscheidend ansieht.

Ein wesentliche Schwäche des Imperialismus sei das Paradoxon der Nachahmung. Jeder am Wettkampf Teilnehmende ahme „unvermeidlich die am meisten wettbewerbstauglichen Strategien“ nach. Dies führe zu einer Pattsituation, die mit dem gemeinsamen Untergang enden könne (S. 211). Natürlich könnte mit einer kulturrassistischen Annahme Zhao widerlegt werden: Nur westliche Kulturen und Systeme seien in der Lage, die erfolgreichsten Strategien durchzuführen. Leider sieht es so aus, als würden unsere radikalen Konfrontations- und Sanktionsbefürworter diese schreckliche Annahme teilen. Wie sonst könnte man erwarten, dass EU-Sanktionen China in die Knie zwingen könnten.

Joschka Fischer hat kürzlich diesen Illusionen eine klare Abfuhr erteilt: „Worum also sollte ein Kalter Krieg 2.0 tatsächlich gehen? China zwangsweise zu verwestlichen und zu demokratisieren? Es in seiner Machtentfaltung einzudämmen und technologisch zu isolieren, es zurückzudrängen? Oder, ein begrenzteres Ziel, seinen Aufstieg nur zu verlangsamen? Und dann? All diese Ziele sind illusionär und werden niemals zu vertretbaren Kosten für alle Beteiligten erreichbar sein. Allein die Tatsache, dass es sich bei China um einen Binnenmarkt von 1,5 Milliarden Menschen handelt, die ihre Chance für Aufstieg und Anerkennung gekommen sehen, schafft wirtschaftliche Abhängigkeiten, die jede Illusion von der Isolierung des Riesenreiches absurd erscheinen lassen.

Geht es also vor allem um die Frage der Macht? Wer wird die Nummer 1 der Welt im 21. Jahrhundert sein? China oder die USA und mit ihr der gesamte Westen? Könnte dies die historische Grundrichtung, dass China in unserem Jahrhundert auf- und der Westen absteigt, tatsächlich ändern? Ich glaube, mitnichten.“ ( 2 )

Sowohl bei Sanktionen als auch bei Anklagen wegen Verletzung der Menschenrechte hat China inzwischen gezeigt, dass es erfolgreich nachahmen kann. In einigen Fällen sogar regelmäßig erfolgreicher. Bei Anklagen gegen China im Menschenrechtsausschuss der UNO bringt China nicht nur immer viel mehr Unterstützer zusammen, sondern klagt inzwischen selbst bestimmte Staaten wie USA, Kanada, GB oder Australien wegen Menschenrechtsverletzungen an und fordert eine internationale Untersuchung. Die nicht-westliche Welt hat es einfach satt, von denen, die auf der ganzen Welt die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen begangen haben und teilweise heute immer noch begehen, ständig kritisiert zu werden.

Eine Nachahmungshandlung kann natürlich genauso fragwürdig sein wie die Vorbildhandlung, aber auch erfolgreicher. Die im Westen als Luftpiraterie bezeichnete weißrussische Aktion gegen einen Regimekritiker hat ein eindeutiges noch fragwürdigeres westliches Vorbild in dem widerrechtlichen Zwischenstoppzwang für eine unter diplomatischer Immunität stehende Maschine des bolivianischen Präsidenten Eva Morales 2013 in Wien. Nur war die unter US-Druck erfolgte Durchsuchung des Flugzeugs nicht erfolgreich. Edward Snowden war nicht unter den Passagieren. Zhao begnügt sich mit der Konstatierung des Nachahmungsparadoxons, ohne es näher mit Einzelbeispielen zu problematisieren. Aber das Phänomen der Nachahmung ist tatsächlich immer mehr zu beobachten und wird sich wohl unaufhaltsam auf alle Dominierungsstrategien und -techniken ausbreiten und sie so mit der Zeit unbrauchbar machen.

Die neue systemische Macht der Dreieinigkeit von Kapital, Technologie und Dienstleistung

Zhao warnt vor der Möglichkeit von „Diktaturen mit Rundum-Versorgung mit Dienstleistungen“, die eine realistische Alternative zur Erzählung seien, dass technologische und wirtschaftliche Entwicklung zu einem „Leben in Freiheit und Demokratie“ führen würden, was er als „eine vom Liberalismus und Kommunismus gemeinsam geteilte Illusion“ der Moderne bezeichnet (S. 218). „Der Rundum-Service liefert scheinbar ein Höchstmaß an Wahlfreiheit und Gleichheit, aber zugleich manipuliert er Leben und Denken jedes Menschen.“ Diese „äußerst bequeme Form von Diktatur“ sei eine „manipulative Macht“, bei der „das Gesamtpaket der vom technologischen System bereitgestellten Serviceleistungen“ zu einer freiwilligen Unterwerfung fast aller Menschen führe (S. 217). Maos Spruch, dass die Macht dem Volke dienen müsse, könne so eine neue Interpretation bekommen: „Die meiste Macht erhält derjenige, der den meisten Menschen Service bietet, der beste Service kann in die größte Macht konvertiert werden.“ Diese Macht als ein „paradoxes Produkt von Freiheit und Demokratie“ könne von Freiheit und Demokratie nicht verhindert werden, weil Freiheit und Demokratie erst den nötigen Entwicklungsraum schüfen (S. 218). Zhao begrenzt diese Möglichkeit nicht auf die westlichen Demokratien und Marktwirtschaften, sondern sieht offensichtlich darin eine weltweite Gefahr.

Die neue Macht sei eine neue Macht „in der Form eines globalen Netzes“ (S. 221). Deshalb würden in Zukunft nicht mehr souveräne Staaten die Hauptnutznießer sein, sondern die netzförmigen Entitäten selbst, also das System des globalen Finanzkapitals, die Systeme der neuen Medien und andere technologische Systeme. Sie würden „sämtliche Staaten kidnappen und manipulieren (partiell jetzt schon erkennbar) und deren Regierungen zu Agenten des globalen Finanzkapitals oder der technologischen Systeme machen“ (S. 222). Für Zhao sind diese Systeme bereits auf dem Weg „zu einer realen politischen Macht“. Sie brauchten keine Regierungsbildungen, keine Polizei und keine Armee, ihnen genüge das hervorragende Angebot an Dienstleistungen und die damit erzeugte Abhängigkeit der Bevölkerungen von ihnen (S. 223). Mit der Macht der „Dreieinigkeit von Kapital, Technologie und Dienstleistung“ spielten die bisherigen politischen „substantiellen“ Entitäten, die Individuen und die Staaten, eine nachgeordnete Rolle. Entscheidend seien bei den neuen Entitäten die Beziehungen.

Die „Natur von Beziehungen“ bestimme nicht nur den Charakter der neuen Entitäten, sondern lege auch „die für das neue Spiel geltenden Spielzüge und Regeln“ (S. 223) fest. Auf die Frage, ob dann konsequenterweise auch Computersysteme und Roboter die Macht übernehmen könnten, geht Zhao leider nicht ein. Für ihn ist die Katze, die er nun aus dem Sack lässt, etwas anderes. Da nämlich die einzelne Existenz jetzt nur noch eine „Funktion der Koexistenz“ sei, werde zur besten Strategie nicht mehr individuelle exklusive Nutzenmaximierung, sondern die „Inklusion-der-Welt-Strategie des Strebens nach Maximierung des gemeinsam geteilten Nutzens.“ Durch die „Veränderung der ontologischen Bedingungen des globalen Spiels“ werde der gemeinsame Nutzen für die einzelnen Existenzen von größerer Bedeutung als der exklusive Nutzen. Dies gelte auch heute schon immer mehr für „die Hegemonialmacht des Imperialismus“. Aber immerhin: „systemische Macht“ sei allein noch in der Lage „durch die Kontrolle des gemeinsamen Nutzens einen größeren Anteil für sich herauszuholen.“ (S. 224) Hier wird klar, dass für Zhao die erwähnten Existenzen offensichtlich nur die bisherigen substantiellen Entitäten sind.

So bleibt die Argumentation von Zhao teilweise dunkel . Denn er postuliert zwar, dass die neue „globale Systematisierung“ die „materielle Voraussetzung für ein neuartiges Tianxia“ schaffe, aber bemängelt das Fehlen „der spirituellen Voraussetzungen“, da „der Egoismus“ der neuen systemischen Mächte kein Interesse an einem Weltsystem der gemeinsamen Nutzenteilhabe verspüre, sondern nur an einer „neuartigen Weltdiktatur“. Zeigen also die systemischen Mächte genau das gleiche Verhalten wie vorher die substantiellen Entitäten und können sich nur wegen ihrer globalen Ausbreitung durchsetzen? Aber was sind sie eigentlich, wenn sie sich nur durch Beziehungen definieren und gleichzeitig aus Kapital, Technologie und Dienstleistungen zusammengesetzt sind? Was für Personen, Existenzen stecken dahinter? Und warum soll nicht ein überragender globaler Machtstaat nicht das Gleiche schaffen können?

Auf jeden Fall soll diese neue Macht aufgrund ihrer „potentiellen Fähigkeiten“ gefährlicher sein als der Imperialismus. Wissenschaft und Technik sollten „zur künftig einzigen Religion werden, die skrupellos alle kulturellen Tabus durchbricht und die Natur, Gott und die moralischen Traditionen ohne Rücksicht auf Verluste herausfordert.“ Die moralischen Fähigkeiten würden so hinter den technologischen herhinken. Ein Weltuntergang sei damit wahrscheinlicher als ein glückliches Leben (S. 225). Die Beschreibung der Eigenschaften der neuen Eliten wirkt dann wie eine Aufarbeitung von Science-Fiction-Romanen – und die chinesischen Romane zählen inzwischen zur Weltspitze. Die Herrschaft einer neuen Klasse von „Übermenschen“, die eine „neue Spezies“ mit „überragenden Fähigkeiten“ bilden, dürfte nach Zhao nicht aufzuhalten sein. Klassenkampf werde bei so unterschiedlichen Kräfteverhältnissen nicht mehr möglich. Der bisherige Rassismus habe keine Bedeutung mehr neben dem neuen „Speziesismus“ und einen Kampf der Kulturen könne es deshalb auch nicht mehr geben (S. 226).

Systemische Gewalt und Manipulation

Die in der systemischen Macht enthaltene „systemische Gewalt“ existiere überall und sei nicht nur auf das technologische oder ökonomische System zurückzuführen, sondern auch auf andere Systeme wie das Informations- und Sprachsystem. Diese Gewalt sei keine direkte physische Gewalt, sondern herrsche „durch Regeln, Verfahren und Ordnungen, durch Einschränkung von Möglichkeiten“. Ihre Durchsetzung erfolge „mittels von den Beteiligten akzeptierten Spielregeln“ und ermögliche sozusagen ganz legal eine psychische Kontrolle. Die „Diktatur auf hohem Niveau“ (S. 219) sorge auch dafür, „dass die Menschen mittels Regulierung durch algorithmische Datenspeicherung ihr Reflexionsfähigkeit verlieren“, da sie nur noch über „das vom System zugelassene politisch korrekte Vokabular“ verfügten (S. 220).

Diese Kritik an der politisch korrekten Sprache ist eine brillante Abrechnung mit einer arroganten und elitären Bewegung, die sich in eine systemische Macht geschmeidig einordnet. Aber diese Kritik könnte natürlich jedem Versuch gelten, Sprache und Denken zu normieren. Und wer sich der Normierung durch Normierungsverbote und somit alternativen Normierungen widersetzen will, sitzt schon in der Falle. Eine pluralistische Demokratie braucht eine pluralistische Sprache, sonst legt sie die Axt an ihre Wurzeln, nämlich den Schutz unterschiedlicher Denkmöglichkeiten. Dass irgendwo Grenzen gegen Hass und Diskriminierung gezogen werden müssen, ist klar, aber die Begrenzung von Hass darf nicht zu eindimensionalem Denken führen, denn eindimensionales Denken ist ja eine der Ursachen von Hass und Diskriminierung.

Zhao legt den Schwerpunkt seiner Kritik auf die in der politisch korrekten Sprache selbst enthaltene Pervertierung. „Wenn Denken nur in politisch korrekter Sprache möglich ist, ist man gezwungen, korrektes Vokabular für kriminelle Inhalte zu verwenden, wie zum Beispiel den Schutz der Menschenrechte als Ausdruck für das Anzetteln von Kriegen […].“ Allerdings geht es hier schon nicht mehr nur um die korrekte Sprache, sondern bereits um das korrekte Denken. Zhao vernachlässigt leider eine genauere Betrachtung des Zusammenspiels von Denkschemata und einzelnen Daten, was bei der Beurteilung von Fakten unerlässlich ist. Auch bei der Kritik an der Gleichförmigkeit der Sprache in den Massenmedien und im wissenschaftlichen Diskurs greift Zhao hier mit der reinen Sprachkritik zu kurz. Nehmen wir aber die Verbindung von Sprache und Denken als gegeben an und verstehen Denken als die Vernetzung von sprachlichen Ausdrücken, dann kann ich Zhao eher zustimmen. Auch seinen Vergleich der Sprache der Medien mit einer „moderne(n) Theologie“ (S. 220) sehe ich skeptisch. Es handelt sich wohl mehr um eine Theologie des Dreißigjährigen Krieges, bei der den definierten Feinden jegliche Rechtfertigungsmöglichkeit abgesprochen wird und das Ergebnis jeglicher Untersuchung von vornherein feststeht. Denken und Sprache dienen nur noch dem vor ab festgelegten Zweck. So kommen Zweifel an der eigenen Wahrheit nicht mehr auf. „In dubio pro reo“ wird zur sinnlosen Aufforderung, wenn das eigene Denken und die eigene Sprache Zweifel gar nicht mehr aufkommen lassen.

Wie kann der Weltuntergang vermieden werden

Allgemein könne festgestellt werden, dass „der größte Teil unserer heutigen politischen Probleme verschwinden“, aber dafür der „Weltuntergang“ zu „einer ernsthaften Zukunftsfrage“ werde. Wenn sich die unbegrenzte technologische Entwicklung mit dem unbeschränkten menschlichen Egoismus verbinde, sei eine Katastrophe unvermeidbar. Die naturgegebene Anlage zum Egoismus sei nicht veränderbar und auch notwendig, um den einzelnen Menschen lebensfähig zu erhalten. Deshalb dürfe es keine unkontrollierte technologische Entwicklung geben und sei ein entsprechendes Weltsystem zur Kontrolle der Technologie notwendig (S. 226). Wenn Zhao dann postuliert, dass „die natürliche Ordnung“ als „ontologische Grenze“ nie überschritten werden dürfe, muss er sich natürlich fragen lassen, wie diese natürliche Ordnung und durch wen zu bestimmen ist. Außer dem Verweis auf eine übergeordnete Weltordnung lesen wir dazu nicht viel. Auch der Verweis von Zhao auf die Gefahr, dass der bestehende Imperialismus bereits ein Interesse an hochriskanten Technologien habe (S. 227), ist nicht ausreichend. Denn auch hier ergibt sich ja nach den Ausführungen Zhaos eine mögliche Reaktion für die nicht imperialistischen Staaten nach dem Nachahmungseffekt. Wie kommt die Welt also aus diesem circulus vitiosus heraus? Wie kommt die Welt zu einem neuen Weltsystem? Zhao bringt alternative Prinzipien ins Spiel, ohne allerdings einen genauen Weg dazu aufzuzeigen: Inklusivität statt Exklusivität und Lagerdenken, relationale Rationalität statt individueller Rationalität, Koexistenz statt Dominanzstreben und Herrschaftsansprüchen. Diese Prinzipien sollen im zweiten Teil der Rezension diskutiert werden.

Dr. Hansjörg Bisle-Müller, 1. Juli 2021

zur Druckversion  

1 Brunozzi, Philippe/Hahn, Henning (2020): Zhao Tingyangs Alles unter einem Himmel: Eine kritische Auseinandersetzung. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie, Bd. 7 (1). 347–354. Text abrufbar unter: https://www.praktische-philosophie.org/brunozzi--hahn-2020.html (Zugriff am 25.7.2021).

2 Fischer, Joschka. „Joschka Fischer: Kalter Krieg 2.0 oder Zusammenarbeit?“ Tendenzblick Online Nachrichten (blog), 22. Juni 2021. https://tendenzblick.net/joschka-fischer-kalter-krieg-2-0-oder-zusammenarbeit/


   
nach oben