Leitartikel der Welt vom 1. Februar

„Dass Kiew siegt, ist fast unmöglich“

Trotz aller Siegeseuphorie, Panzergeschacher, Kampfflugzeuggerede und Rekrutenjagd scheint das militärische Desaster für die Ukraine unausweichlich

12.2.2023

Der Artikel
Anmerkungen
Siegeseuphorie
Panzergeschacher
Kampfflugzeuggerede
Militärisches Desaster
Rekrutenjagd
„Gnadenlos – Debatte zu Regierungserklärung“
„das sinnlose politische Aufhetzen der Ukrainer“
Bedeutung und Wirkung des Artikels

zur Druckversion  

Der Artikel

In ihrer online-Ausgabe veröffentlicht Die Welt am 1. Februar einen für führende deutsche Medien verblüffenden Kommentar ( 1 ). Die Überschrift und der Untertitel lauten: „Ukraine: Warum es fast ausgeschlossen ist, dass Kiew noch siegt. So bitter es ist: Ein Sieg der Ukraine wird täglich unwahrscheinlicher. Kiews Armee gehen Leute und Material aus, der Feind stellt sich besser ein und verfügt über gewaltigen Nachschub. Kein Wunder, dass westliche Diplomaten nun immer häufiger von Waffenstillstand sprechen.“

In der Papierausgabe der Welt vom gleichen Tag wird der online-Kommentar zum Leitartikel. Die Überschriften lauten: „Dass Kiew siegt, ist fast unmöglich. Die Lage der Ukrainer wird täglich verzweifelter. Ihrer Armee gehen Leute und Material aus, Putins Reserven dagegen sind riesig. Kein Wunder, dass immer mehr westliche Diplomaten von Waffenstillstand sprechen“.

Was schreibt nun der Autor Christoph B. Schiltz in diesem Artikel?

Zu Jahresbeginn habe die Ukraine noch Optimismus verbreitet, der Chef des Militärgeheimdienstes habe von „Sieg“ in diesem Jahr gesprochen. „Sieg“ bedeute aus ukrainischer Sicht die Einnahme aller „besetzten“ Gebiete, einschließlich der Krim. Aber das sei wegen mangelnder Unterstützung des Westens „unmöglich“.

Christoph B. Schiltz fragt nach den Gründen „für den absehbaren Erfolg Russlands“.

Erstens: In den Debatten der vergangenen Wochen ist endgültig klar geworden, dass die USA, Deutschland und weitere Nato-Verbündete mehr Angst vor einer Ausbreitung des Krieges auf Nato-Gebiet haben als vor der Bedrohung der westlichen Sicherheit durch territoriale Eroberungen Russlands in der Ukraine.“ Der Westen fürchte, bei Lieferung noch massiverer Waffen, selbst in Gefahr zu geraten. Deshalb unterstütze er die Ukraine nur so, „dass sie nicht sofort kapitulieren muss“.

Zweitens habe Russland 60-70 Prozent der kritischen Infrastruktur in der Ukraine zerstört. Ohne ausreichende Luftverteidigungssysteme könne Kiew diese Entwicklung nicht stoppen. Russland verfüge über weitere riesige Arsenale an Raketen und Drohnen, während die Ukraine immer weniger in der Lage sei, die Infrastruktur zu reparieren. Wegen des Energiemangels werde die Versorgungslage immer schwieriger und die ukrainische Rüstungsindustrie brauche dringend Strom.

Drittens h abe Russland genügend Ressourcen, vor allem im Panzerbereich. Laut dem Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) dürfte Russland demnächst über 4000 einsetzbare Panzer verfügen und damit jederzeit zu einer Offensive in der Lage sein.

Viertens gingen der Ukraine die Soldaten aus. In der achten Mobilisierungswelle w ü rden bereits Männer über 60 Jahre an die Front geschickt. Dagegen habe Russland sehr bald 200.000 frische Kräfte und im Sommer vielleicht noch bis zu 500.000 weitere Soldaten. Und dies vor dem Hintergrund eines Mobilisierungspotenzials, das in die Millionen Personen geht.

Fünftens : Russland dürfte aus den genannten Gründen nicht nur als militärischer Sieger mit territorialen Gewinnen aus diesem Krieg hervorgehen, sondern auch als politischer Sieger“. Die wirtschaftliche Erholung der Ukraine werde schwierig werden und eine Mitgliedschaft sowohl in der NATO wie in der EU auf lange Zeit ausgeschlossen sein.

Durch die zögerliche Unterstützung des Westens verliere Kiew Zeit, um aus dem Stellungskrieg herauszukommen: „Die russischen Truppen nutzen diese Zeit, um sich einzugraben, Minenfelder zu legen, Stellungen auszubauen, frische Reservekräfte und neues Kriegsgerät nachzuschieben, um im Frühjahr besser gerüstet zu sein für Angriff und Verteidigung. Mit den versprochenen Lieferungen von Kampfpanzern – die Ukraine hatte 300 verlangt und bekommt nur circa 130 – ist die Ukraine wohl nicht in der Lage, erfolgreiche Gegenoffensiven bei Kreminna und vor allem Saporischschja zu starten, um die russischen Truppen auf der Krim von der Versorgung abzuschneiden.

Das gilt umso mehr, weil die Ukraine für einen erfolgreichen Panzerangriff in Richtung Krim auch Kurzstreckenraketen mit einer größeren Reichweite (ATACMS), mehr Schützenpanzer (100 versprochen, 500-600 von Kiew gefordert), mehr Artilleriesysteme (70 versprochen, 500 gefordert) und Kampfjets (null versprochen, 180 F16-Jets gefordert) benötigte.“

Europa und die USA unternähmen auch nichts, um die russische Satellitenkommunikation zu stören, was für Moskau gravierend wäre. Christoph Schiltz fasst die aktuelle Lage so: „Kiew läuft die Zeit davon – und der Westen schaut zu “ und kommt zum Schluss: „Wer mit westlichen Diplomaten spricht, hört immer häufiger von der Angst vor einer Eskalation, von der Sorge vor einer Kriegsmüdigkeit der demokratischen Gesellschaften und von der Hoffnung auf einen baldigen Waffenstillstand.

Und genau auf diesen schnellen Waffenstillstand läuft das Engagement des Westens mittlerweile hinaus – stillschweigend natürlich. Das Ergebnis wird sein: eine amputierte Ukraine.

Anmerkungen

Siegeseuphorie

Dieser bemerkenswerte Artikel wurde in der Öffentlichkeit anscheinend nicht bemerkt . Keine Reaktion auch von Seiten der anderen Zeitungen – beredtes Schweigen allüberall. Stattdessen wird weiter mit Waffen gewedelt, auch mit vielen Waffen – die aber dann vielleicht doch nicht im angekündigten Umfang kommen oder viel zu spät oder hoffnungslos veraltet oder schrottreif. Und der neue deutsche Verteidigungsminister Pistorius gibt gleichzeitig die Parole aus, „dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen müsse“. Wir zitieren aus der Süddeutschen vom 9. Februar ( 2 ):

„Anders als Kanzler Olaf Scholz (SPD), der monatelang wartete, bis er erstmals mit dem Zug von Ostpolen nach Kiew gereist ist, hat Pistorius das nach keinen drei Wochen im Amt gemacht. Er traf Präsident Selenskij, Wladimir und Vitali Klitschko, Verteidigungsminister Oleksij Resnikow. Das zeigt, welche Hoffnungen man in Kiew in ihn setzt. Anders als Scholz sagt er klar, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen müsse.“

Man kann diesen Satz auf zweierlei Art verstehen: bedingungslose Unterstützung der Ukraine bei ihrem Ziel, den Krieg zu gewinnen. Aber auch als Anweisung oder Befehl eines Kriegsherrn an die Ukraine, diesen Krieg zu gewinnen.

Die Süddeutsche bringt Pistorius auch direkt in Stellung gegen Vorwürfe eines zu zögerlichen Engagements der Bundesregierung ( 3 ): „Und Pistorius ist bemüht, mit klaren Botschaften einen kommunikativen Eindruck zu entkräften, der seiner Meinung nach nicht mit der Realität übereinstimmt: dass Deutschland zu spät und zu wenig im Krieg gegen Russland helfe.“

Panzergeschacher

Laut Süddeutsche demonstrierte Pistorius seinen Willen zur militärischen Unterstützung der Ukraine so ( 4 ):

„… Er hatte daher neue Ankündigungen für eine Lieferung von über 100 alten Leopard-1-Kampfpanzern an die Ukraine mitgebracht. Bis Ende März sollen bereits zudem die 14 Leopard-2-Kampfpanzer aus Bundeswehrbeständen in der Ukraine sein. Zudem sollen bis März insgesamt weitere fünf Gepard-Flugabwehrpanzer, fünf Dachs-Pionierpanzer, sowie fünf Biber-Brückenlegepanzer ankommen.“

Laut Boris Pistorius habe Deutschland der Ukraine bisher 3,3 Milliarden Euro Militärhilfen zugesagt – ohne die Leopard-Lieferungen. Die Süddeutsche ( 5 ):

„Nach den Ankündigungen folgt nun die Kärrnerarbeit, die logistische Umsetzung. Pistorius hat in Kiew etwa 600 ukrainische Soldaten verabschiedet, die nun in Deutschland am Leopard 2 ausgebildet werden. … Sein Problem: In der Panzerfrage sieht es kompliziert aus, angefangen bei der Leopard-2-Koalition für Kiew. Pistorius räumt ein, dass weniger geliefert werden könnte als erhofft. Weiter fehlen etwa von den Niederlanden, Finnland oder Dänemark konkrete Zusagen. Beim moderneren Typ Leopard 2 A6 könnte außer Deutschland kaum jemand etwas liefern. Nun ist bei Pistorius nur noch ‚von ein bis zwei Bataillonen‘ die Rede. Die ursprünglich anvisierte Zahl von zwei Bataillonen und rund 60 Leopard 2 scheint schwierig zu werden.“

Aber auch die veralteten Leopard 1 – teilweise über 40 Jahre alt – müssten erst „ertüchtigt“ werden, weiß die Süddeutsche: „Rheinmetall will in diesem Jahr die ersten 20 bis 25 Leopard-1-Panzer in die Ukraine schicken, den Rest 2024. Doch auch hier bereitet die Ersatzteilfrage Sorgen.“

Angesichts dieses Krempels an Waffenlieferungen – und wir haben hier nur das Desaster bei den Panzern kurz skizziert – wirkt es geradezu lachhaft, was Boris Pistorius vertritt: „‚Wie kommt man an den Punkt, dass man Putin und Russland an den Tisch bekommt?‘, fragt Pistorius und macht deutlich, dass das Ausmaß der Lieferungen Wladimir Putin von der Aussichtslosigkeit seines Krieges überzeugen soll.“ ( 6 )

Das Geschacher um die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzer geht inzwischen weiter. Zwischen den Niederlanden und Deutschland sei es zu „Irritationen“ gekommen über die Lieferung an die Ukraine, berichtet die FAZ ( 7 ). Das Bundesverteidigungsministerium habe Berichte aus Den Haag zurückgewiesen, wonach Berlin eine Weitergabe von 18 Panzern an Kiew blockiere, die die Niederlande von Deutschland geleast haben. Auch das Treffen der Regierungschefs in Brüssel, wo Scholz um Unterstützung warb, brachte nur ein mageres Ergebnis. Sicher sei bis jetzt nur, dass Deutschland und Polen jeweils 14 Leopard 2 Panzer liefern. Spanien, Portugal und Kanada, die ebenfalls Interesse signalisiert hätten, hätten noch keine nationale Entscheidung getroffen. Scholz habe sich gleichwohl „optimistisch“ gezeigt.

Deutsche Panzer in Bereitschaft vor dem Angriff, Ukraine, Sommer 1942; Bundesarchiv Bild 169-0116, Russland, Panzersoldaten auf Panzer IV CC BY-SA 3.0 DE

 

Kampfflugzeuggerede

Vor zwei Wochen vermeldete das ZDF noch ( 8 ): „Die USA und Frankreich schließen eine Lieferung von Kampfjets an die Ukraine nicht aus. Beide richten ihre Unterstützung danach, was an Waffensystemen gerade gebraucht wird.“ Die Niederlande zeigten sich offen gegenüber dem Thema, es gebe keine Tabus. Auch Frankreich schließe eine Lieferung von Kampfjets nicht aus. Polen würde dafür stimmen, wenn es sich um eine Entscheidung der NATO als Ganzes handele. „Laut Bericht der polnischen Zeitung ‚Dziennik Gazeta Prawna‘ soll Polen angeblich schon eine bestimmte Stückzahl dieser MiG's doch auf Umwegen an die Ukraine geliefert haben – darunter aber keine Jets westlicher Bauart.“

14 Tage später heißt es eine Überschrift der FAZ ( 9 ): „London bleibt vage. Wallace trübt Kiews Flugzeug-Hoffnungen“. London wirke weniger entschieden als in der Debatte um Kampfpanzer. Verteidigungsminister Ben Wallace habe sich zuletzt auffällig vage geäußert. Dennoch habe er die Ausbildung ukrainischer Piloten an britischen Kampfflugzeugen angekündigt.

Ganz nebenbei lässt die Frankfurter Allgemeine Zeitung dabei Folgendes heraus: „Auch kam es zu einem kleinen Schlagabtausch zwischen Sunak und Selenskyj. Als der Premierminister darauf hinwies, dass die Ausbildung ukrainischer Soldaten an Kampfflugzeugen vom Typ Euro­fighter Typhoon drei Jahre dauern würde, entgegnete sein Gast, dass sei­ne Piloten schon seit zweieinhalb Jah­re trainieren würden.“

Großbritannien, das bei Waffenlieferungen an die Ukraine immer den Eisbrecher machte, führt nun Bedenken an wegen einer Eskalation der Lage ( 10 ):

„Sunak bezeichnete zwar am Donnerstag die Frage von Kampfflugzeuglieferungen als ‚Teil der Gespräche‘, aber sein Sprecher zog gleich Grenzen: ‚Wir treffen diese Entscheidungen mit großer Vorsicht und Bedacht. Wir sind uns der möglichen eskalatorischen Risiken bewusst.‘“

Bei dieser Gelegenheit machte der britische Premier laut FAZ noch eine Bemerkung, die aufhorchen lässt ( 11 ):

„Am Donnerstagabend goss Wallace dann noch mehr Wasser in den Wein. Nach einem Ministertreffen in Rom stellte er klar: ‚Großbritannien hat nie gesagt, dass es auf jeden Fall Kampfflugzeuge in die Ukraine lie­fern wird.‘ Man habe nur gesagt, ‚dass wir mit der Ausbildung begin­nen, um die Widerstandskraft der Ukraine zu verbessern, wahrschein­lich für die Zeit nach dem Konflikt‘. …“

Diese ungeheuerliche Aussage kann eigentlich nur bedeuten, dass Großbritannien davon ausgeht, dass „nach dem Konflikt“ in der Ukraine westliche Kampfflugzeuge stationiert werden. Dafür werde man jetzt schon mit der Pilotenausbildung beginnen. Das heißt, Sunak geht davon aus, dass die NATO über kurz oder lang das Gebiet der Ukraine übernimmt und sich gegen Russland in Stellung bringt.

Militärisches Desaster

Was die militärische Lage in der Ukraine angeht, verweisen wir hier noch einmal ( 12 ) auf Oberst Markus Reisner vom Generalstab des österreichischen Bundesheeres, der in den Medien regelmäßig zu Wort kommt. Er resumierte vor zweieinhalb Wochen bei NTV, „dass es für lange Diskussion um Waffenlieferungen möglicherweise zu spät ist. Russlands Übermacht sei kaum auszugleichen“. ( 13 )

Rekrutenjagd

Die junge Welt bringt den Bericht eines ukrainischen Journalisten, der die Rekrutierungskampagne der Regierung in Kiew als „Jagd nach Kanonenfutter“ bezeichnet ( 14 ):

„Mehrere Kleinbusse fahren plötzlich auf dem Marktplatz von Wasilkow im Gebiet Kiew vor. Ukrainische Soldaten springen heraus, einige davon mit Waffen. Sie sperren den Platz ab und beginnen, alle Männer zu ergreifen, die im Alter von 18 bis 60 Jahren scheinen. Zwanzig Männern werden Einberufungsbescheide zum Militär übergeben, vier weitere werden unter ­Schreien und Drohungen auch mit Waffen in den Bus gedrängt. Danach verlassen alle fluchtartig den Marktplatz. …

Nach zwei bis drei Wochen Ausbildung werden die Rekruten sofort an die Front geworfen. Soldaten ohne Training, das macht normalerweise keinen Sinn. Doch sie werden, wie es zynisch heißt, als ‚Antiartillerieradar‘ eingesetzt – im Feld zurückgelassen, dienen sie dazu, den Standort der gegnerischen Geschütze bestimmen zu können, die sie unter Feuer nehmen.

Die ukrainischen Militärs, die die Einberufungsbescheide aushändigen, werden ‚Todesboten‘ genannt. In der Regel handelt es sich bei ihnen um neu Mobilisierte, denen bei der Einberufung ein Aufschub gewährt wird. Falls sie eine Mindestzahl von Vorladungen aushändigen oder dem Melde- und Rekrutierungsbüro eine bestimmte Anzahl Rekruten ausliefern, brauchen sie nicht an die Front.

Eines der Merkmale der massenhaften Einberufungen in der Ukraine ist ihr Klassencharakter. Arbeiter und arme Landbewohner werden zwangsweise an die Front gebracht. Grenzschützer und andere Beamte verlangen für ein Wegschauen bei der Ausreise Bestechungsgelder von bis zu 10.000 US-Dollar, was sich im ärmsten Land Europas nur wenige leisten können. Darüber hinaus sind Mitarbeiter von Organisationen, die von westlichen Gebern finanziert werden, vom Kriegsdienst befreit.

‚ Trotz der Masseneinberufung in der gesamten Ukraine verzeichnet (…) die ukrainische Armee einen großen Personalmangel. Blickt man auf die hohen Verluste, versteht man, welch düsteres Bild sich ergibt – die ­Rekrutierungskampagne wird also noch verschärft werden‘, heißt es auf dem ukrainischen Telegram-Kanal ‚Media Killer‘.“

„Gnadenlos – Debatte zu Regierungserklärung“

Zum Schluss wollen wir aus einem Kommentar von Arnold Schölzel zur Bundestagsdebatte am 8. Februar aus der jungen Welt zitieren ( 15 ) sowie aus einem weitsichtigen Leserbrief, der schon im März 2022 in der jungen Welt erschien:

„Im Bundestag nannte … am Mittwoch Robin Wagener (Bündnis 90/Die Grünen) den nach US-Aussage vor allem von Washington finanzierten Putsch 2014 in Kiew eine ‚Revolution der Würde‘. Wer solche Fanatiker des Gemetzels, das die Kiewer Würdeträger seit neun Jahren gegen eigene Landsleute veranstalten, im Parlament hat, darf sich nicht wundern, wenn demnächst einer eine Bandera-Statue im Reichstagsgebäude aufstellt. Immerhin hat sich der Bundeskanzler am Mittwoch den Banderistengruß ‚Slawa Ukraini!‘ verkniffen. Am 2. März, wenn er seine ‚Zeitenwende‘-Bilanz ziehen will, wird der nicht fehlen. Ein wichtiger Zweck der Einverleibung der Ukraine in westliche Einflusssphären ist die Tolerierung faschistischen Massenmords. Darum haben die Westmarionetten in Osteuropa seit mehr als 30 Jahren gekämpft.

Deutscher Realitätsverlust im Krieg gegen Russland ist imperialistischer Wiederholungstatbestand. In den USA hat die Debatte um einen Ausweg aus dem ukrainischen Desaster, das der Westen ausgelöst hat, begonnen. Es gibt Katzenjammer. Die Mehrheit des Bundestages schwelgte am Mittwoch dagegen im Siegesrausch. Nur der Kanzler machte Differenzen im Bündnis aus – selbst bei wirtschaftlichen Interessen. Welch Überraschung. Die Debatte ging darüber hinweg. Die Parlamentsmehrheit sieht sich erfolgreich an der Spitze eines Panzerkorps Richtung Osten.“

„das sinnlose politische Aufhetzen der Ukrainer“

Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart ( 6. März 2022) ( 16 ):

„Joe Biden erklärte zufrieden zur Situation in der Ukraine: ‚Jeder vom Studenten bis zum pensionierten Lehrer wurde zum Soldaten, der sein Heimatland verteidigt.‘ Diese Situation wurde ermöglicht durch Lieferungen veralteter Waffen des Westens und das sinnlose politische Aufhetzen der Ukrainer. Das dient strategischen Gründen. Erstens sollen die Russen durch hartnäckige Kämpfe am Ende ein total kaputtes Land in die Hände bekommen und dadurch, selbst vom Krieg geschwächt, enorme wirtschaftliche Schwierigkeiten beim Aufbau bekommen ... Zweitens: Durch Verschrottung alter Waffen sollen neue Waffenbestellungen bei der US-Militärindustrie beschleunigt werden. Außerdem beruht die Strategie des ‚Wertewestens‘ immer noch auf dem Prinzip des überheblichen weißen Mannes, dass nirgendwo auf dieser Welt ein blühender ‚dritter Weg‘ gegenüber den ‚westlichen Demokratien‘ erlaubt wird.“

Bedeutung und Wirkung des Artikels

Welche Bedeutung hat nun dieser knallharte Leitartikel in der Welt vom 1. Februar mit dem Titel „Dass Kiew siegt, ist fast unmöglich“? Wie ist seine Wirkung und wer hat ihn veranlasst, mit welchem Ziel?

Weder der Autor noch die Auflage der WELT geben in diesem Zusammenhang viel her.

Der Autor, Christoph B. Schiltz, ist seit 1997 bei WELT, seit 2014 Korrespondent in Brüssel. Nach einem Studium von Volkswirtschaft und politische Wissenschaften begann seine Laufbahn mit einem Volontariat bei der BILD-Zeitung. Die verkaufte Auflage der Druckausgabe der WELT wird bei Wikipedia für das vierte Quartal 2021 mit 88.780 Exemplaren angegeben, die Zahl der digitalen Abonnenten Der Welt soll bei über 200.000 liegen. ( 17 )

Dass Die Welt immer noch eine wichtige Marke des Medienkonzerns Axel Springer SE ist, ist natürlich schwerwiegend.

Konkreteres sagt uns hier vielleicht die Personalie Michael Stürmer, ein früherer Leitartikler der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit 1998 Chefkorrespondent der Welt und der Welt am Sonntag . Beim Wikipedia-Eintrag zu Michael Stürmer heißt es ( 18 ):

„In der Untersuchung von Uwe Krüger zum Einfluss von Eliten auf Leitmedien wird Michael Stürmer zu den am stärksten mit den sogenannten Eliten vernetzten Journalisten gerechnet. Besonders in den Themenfeldern Sicherheit, Verteidigung und Auslandseinsätze der Bundeswehr zeige sich, dass er in seinen Artikeln den Diskurs der Eliten abbilde, deren Argumente verbreite und für mehr militärisches Engagement werbe. Das vermittelte Bild von Bedrohungen und Konflikten entspreche offiziellen militärpolitischen Doktrinen. Techniken der Propaganda würden zu seiner Verbreitung eingesetzt. ( 19 )“

Geht man davon aus, haben die Eliten unter anderem durch Michael Stürmer einen starken Einfluss auf die Welt . Die Zeitung bilde den Diskurs der Eliten vor allem im militärischen Themenfeld ab. Man kann also davon ausgehen, dass der Leitartikel vom 1. Februar nicht einfach von Christoph B. Schiltz veröffentlicht wurde, sondern auf höchster Ebene abgestimmt war. Wenn nun die beiden Hauptkonkurrenten der Welt, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung, nicht reagieren auf diesen Vorstoß, so sehen Sie die Zeit für ein Umschwenken, für Deeskalation und für Verhandlungen im Ukrainekrieg wohl noch nicht gekommen – obwohl sie ihn wahrscheinlich für genauso aussichtslos halten wie der Autor in der Welt.

Übrigens, der gleiche Autor, Christoph B. Schiltz, schrieb am 22. August 2022 einen ähnlichen Artikel, wo er die sich anbahnende Niederlage Kiews bereits ins Auge fasste. In der online Ausgabe hieß der Titel „Gegenoffensive? Ein Sieg Kiews bis Jahresende? Das sind Träumereien“, in der Druckausgabe: „Die Stimmung droht zu kippen. Kiew vermag Putins Vormarsch nicht zu stoppen. Doch die USA und Europa helfen noch immer nicht so, wie sie könnten. Weil umstritten bleibt, was eigentlich das strategische Ziel ist. Aber auch, weil die Bevölkerung zu murren beginnt.“ ( 20 ) im Artikel der Welt vom 22. August heißt es dann:

„Es sieht nach einem halben Jahr Krieg nicht gut aus für die Ukraine. Sie ist dabei, den Donbass im Osten zu verlieren. Ein Großteil des Südens befindet sich bereits in der Hand Russlands. Nichts deutet derzeit darauf hin, dass sich das in absehbarer Zukunft wieder ändern könnte. Die seit Ende Mai von Kiew für den Süden angekündigte Gegenoffensive im Raum Cherson – die von imminenter Bedeutung wäre, um Moskau künftig davon abzuhalten, die Hafenstadt Odessa einzunehmen und das Land damit endgültig vom Zugang zum Schwarzen Meer abzuschneiden –, findet nicht statt, weil die ukrainischen Streitkräfte dazu aktuell nicht in der Lage sind. …

Kiew steht mit dem Rücken zur Wand.

Könnte sich das ändern? Ja. Dazu müsste der Westen aber bereit sein, deutlich mehr Munition und Waffen zu liefern, vor allem Mehrfachraketenwerfer, potente Panzer und Luftabwehrsysteme. Nach Angaben des Militärstrategen Markus Reisner aus dem Verteidigungsministerium in Wien wurden bisher nur zehn bis 15 Prozent der benötigten Waffen an die Ukraine geliefert. Der Westen muss sich jetzt entscheiden: Will er die Ukraine in den kommenden Monaten substanziell besser ausstatten und damit natürlich auch das Risiko einer weiteren Eskalation eingehen, oder will er die Ukraine einer russischen Kriegsmaschinerie überlassen, die auf Zeit spielt und noch über ausreichend Reserven verfügt?“

Bereits im August vergangenen Jahres sah also der Autor Schiltz Kiew mit dem Rücken zur Wand. Nur mit massiven Waffenlieferungen hätte man die militärische Lage der Ukraine ändern können. Dafür hätte der Westen „natürlich auch das Risiko einer weiteren Eskalation eingehen“ müssen. So wie es aussieht, hat der Westen dieses Risiko vermieden.

Peter Feininger, 11. Februar 2023

zur Druckversion  

 

 

1 Schiltz, Christoph B. „Ukraine: Warum es fast ausgeschlossen ist, dass Kiew noch siegt; Artikel hinter einer Paywall; Titel des Leitartikels in der Papierausgabe vom 1.2.2023: Dass Kiew siegt, ist fast unmöglich.“ DIE WELT, 1. Februar 2023, https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus243530139/Ukraine-Warum-es-fast-ausgeschlossen-ist-dass-Kiew-noch-siegt.html .

Auf dem Telegramkanal von Arminius Erben ist der komplette Text zu finden: Sonderbericht Ukraine: warum es fast ausgeschlossen ist das Kiew noch siegt Teil 1/2 https://t.me/arminius_erben/8728 , Teil 2/2 https://t.me/arminius_erben/8729

2 Ismar, Georg. „Leoparden wecken. Die Lieferung der mehr als 100 versprochenen Kampfpanzer an die Ukraine kann dauern. Einige sind mehr als 40 Jahre alt und müssen ertüchtigt werden, doch es fehlen Ersatzteile“. Süddeutsche Zeitung, 9. Februar 2023.

3 Ebd.

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Ebd.

7 T.G./gna. „Irritationen über Leopard-2-Lieferungen. Den Haag: Berlin verhindert Weitergabe an Kiew / Schulung ukrainischer Soldaten in Polen hat begonnen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Februar 2023.

8 „Ukraine: Was Nato-Länder zu Kampfjet-Lieferungen sagen. Kiew bringt die Lieferung von Kampfjets ins Spiel. Deutschland winkt ab - andere Nato-Staaten zeigen sich offener für den Vorschlag. Eine Übersicht.“ ZDF heute, 27. Januar 2023, https://www.zdf.de/uri/7cd40692-04ce-4135-81fe-4b04c0dae90d .

9 Buchsteiner, Jochen. „London bleibt vage. Wallace trübt Kiews Flugzeug-Hoffnungen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung , 11. Februar 2023.

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Siehe auch: Feininger, Peter. „Protestaktion des grünen Stadtrats Hannes Grönninger gegen die ‚Kriegstreiber-Partei‘ der Grünen: ‚Blut klebt an unseren Händen‘“. Forum solidarisches und friedliches Augsburg, 27. Januar 2023, https://www.forumaugsburg.de/s_1aktuelles/2023/01/27_hannes-groenninger-protestiert-bei-der-delegiertenversammlung-der-gruenen-schwaben-gegen-waffenlieferungen-an-die-ukraine.htm#sdfootnote15anc .

13 Oberst: Ukraine läuft für Offensive die Zeit davon. Oberst Markus Reisner vom Generalstab des österreichischen Bundesheeres macht deutlich, dass es für lange Diskussion um Waffenlieferungen möglicherweise zu spät ist. Russlands Übermacht sei kaum auszugleichen. 2023-01-23. Regie von ntv Nachrichten, 2023. YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=u33XktOuSNk

14 Kowalewitsch, Dmitri. „Jagd nach Kanonenfutter. Ukraine: Hohe Verluste an der Front. Die Rekrutierungskampagne wird verschärft“. junge Welt, 9. Februar 2023, https://www.jungewelt.de/artikel/444526.ukraine-krieg-jagd-nach-kanonenfutter.html .

15 Schölzel, Arnold. „Gnadenlos. Debatte zu Regierungserklärung. Kommentar“. junge Welt , 9. Februar 2023, https://www.jungewelt.de/artikel/444539.gnadenlos.html .

16 Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart ( 6. März 2022) zum Artikel: Greve, Jan, und Dmitri Kowalewitsch. „»Einfacher, ein Gewehr als Brot zu bekommen«“. junge Welt, 5. März 2022, https://www.jungewelt.de/artikel/421972.krieg-in-der-ukraine-einfacher-ein-gewehr-als-brot-zu-bekommen.html.

17 „Die Welt“. Wikipedia, 17. Januar 2023. Wikipedia, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Die_Welt .

18 „Michael Stürmer“. Wikipedia, 17. März 2022. Wikipedia, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Michael_St%C3%BCrmer .

19 Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse. Herbert von Halem, Köln 2013

20 Schiltz, Christoph B. „Gegenoffensive? Ein Sieg Kiews bis Jahresende? Das sind Träumereien; Artikel hinter Paywall; Titel in der Druckausgabe vom 22.8.2022: Die Stimmung droht zu kippen. Kiew vermag Putins Vormarsch nicht zu stoppen. Doch die USA und Europa helfen noch immer nicht so, wie sie könnten. Weil umstritten bleibt, was eigentlich das strategische Ziel ist. Aber auch, weil die Bevölkerung zu murren beginnt“. DIE WELT, 22. August 2022, https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus240610655/Ukrainische-Schwaeche-im-Krieg-Der-Westen-muss-Farbe-bekennen.html .


   
nach oben